Zusammenfassung
›Musikalische Kinematographik‹ lautet der Arbeitstitel eines künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsvorhabens, das sich im weitesten Sinne mit einer philosophischen Analyse der Beziehungen von Bewegung und Zeit in der Musik befasst. Federführend ist dabei in mehrerer Hinsicht der Rekurs auf Begriffe, die Gilles Deleuze in seinen beiden Kino-Büchern Das Bewegungs-Bild [L'image mouvement, 1983] und Das Zeit-Bild [L'image temps, 1985] ausgearbeitet hat und die in ein musikästhetisches Register transponiert werden. Die musikalische Kinematographik verweist auf eine wesentlich unbewusst voranschreitende Differenztechnik des Virtuellen (»universeller Kinematograph«), deren motorische Effekte sich transzendental-empirisch freilegen und in konkreten musikalischen Einzelfällen nachvollziehen lassen. Durch diese Differenztechnik wird Bewegung in zeithafter Weise in musikalische Körper und andere resonatorische Aufzeichnungsflächen eingeschrieben, um durch vielfältige Mechanismen technischer Reproduktion in mehr oder weniger konsistenter Weise wiedergegeben zu werden. Der Begriff der ›Technik‹ wird dabei ausdrücklich – in Bezugnahme auf eine Formulierung Immanuel Kants aus der »Ersten Einleitung« der Kritik der Urteilskraft und deren differenzphilosophischer Re-Evaluation durch Deleuze in den Kino-Büchern (»geistiger Automat«) – denkbar weit gefasst. Er bezeichnet die quasi-maschinische Anordnung von Einschnitt-Strom-Verkettungen bzw. den Einschnitt und Strom eben dieser Bezugsgrößen selbst und reterritorialisiert sich in theoretischer Hinsicht im Konzept eines ›virtuellen Kinematographen‹.
Musikalisch-kinematographische Montage
Als ästhetische Montage produziert die musikalische Kinematographik bestimmte ›Bilder‹ der Zeit, die sich dem musikalisch wahrnehmenden Bewusstsein direkt oder indirekt präsentieren können. Die Einschreibungsflächen sind dabei ebenso divers, wie die Modi plural sind, in denen sich die virtuelle Kinematographik aktualisieren kann. Als musikästhetisches Forschungsfeld lässt die musikalische Kinematographik ontologische, wahrnehmungstheoretische und produktionsästhetische Aspekte ineinandergreifen und fordert zu einer differenzierten Aufteilung verschiedener operativer Ebenen künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung heraus. Zeit und Bewegung werden in diesem Zusammenhang als für sich selbst zwar nicht wahrnehmbare, in der Musik jedoch wirksame Kräfte aufgefasst, deren produktive Interaktion sich aufzeichnen und begrifflich differenzieren lässt. Sie erweisen sich als wesentliche Faktoren einer ebenso umfassenden, wie machtförmigen Semiotisierung der Klangmaterie, deren virtuelle Effekte sich in verschiedenen historischen Situationen und gesellschaftlichen Wunschkonstellationen in einer charakteristischen Weise bemerkbar machen. Die musikalische Kinematographik kann daher nicht von einer kinematographischen Analyse der Musik getrennt werden, die sich den Modi der Einschreibung und Reproduktion musikalischer Bewegungsgefüge zuwendet, um auf diese Weise die kinetisch-ontologische Genese der Musik begrifflich fassen und differenzieren zu können.
Deleuze-Paraphrase
Der ersten Teil der musikalischen Kinematographik folgt in wesentlichen Zügen der Argumentation der beiden Kino-Büchern von Deleuze, die durch ›Paraphrase‹ auf musikalische Fragen übertragen werden. Mit dieser Methode ist ausdrücklich keine bloße Nacherzählung oder didaktische Reduktion gemeint. Die Technik der Paraphrase wird vielmehr im griechischen Wortsinn von παϱάφϱασις [paráphrasis] als ›Nebenrede‹ begriffen, die ungehörte Potentiale einer philosophischen Theorie musikästhetisch zum Schwingen bringt. In der Kompositionslehre bezeichnet das Genre der Paraphrase die Umarbeitung eines bestehenden Werkes in den Kontext eines anderen Stilbereichs oder auch das freie Umspielen oder Ausschmücken einer Melodie. Sie ist zwischen den beiden Polen der Transkription bzw. des Arrangements und der Variation und Improvisation über ein Thema beziehungsweise ein ganzes Werk angesiedelt. Als musikalische fügt eine Paraphrase ihrem Vorbild immer auch etwas hinzu (Stimmen, Harmonien, Dynamik) und lässt einer Komposition implizite Aspekte nach außen treten. Dabei geht es nicht um einen direkt übertragenen Sinn, sondern um einen Sinn, der Abstände überspringt und sich als durch eine Para-Phrase hervorgerufener »Para-Sinn« bezeichnen ließe. Dieser verhilft sich zunächst im Paradox zum Ausdruck, das die musikalische Kinematographik als ästhetische Montage bestimmte ›Bilder‹ der Zeit produziert, die sich dem musikalisch wahrnehmenden Bewusstsein direkt oder indirekt präsentieren können. Die Einschreibungsflächen sind dabei ebenso divers, wie die Modi plural sind, in denen sich die virtuelle Kinematographik aktualisieren kann. Als musikästhetisches Forschungsfeld lässt sie auf diese Weise ontologische, wahrnehmungstheoretische und produktionsästhetische Aspekte ineinandergreifen und fordert zu einer differenzierten Aufteilung verschiedener operativer Ebenen künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung heraus. Der Anspruch der musikalischen Kinematographik para-disziplinäres Forschungsfeld zu sein, verweist auf die mit der musikalischen Kinematographik verbundenen ontologischen Probleme, die ein Sicherheit stiftendes Korsett einer verbindlichen Systematik auf Anhieb zum Bersten bringen. Wie das Klang-Bild – womöglich der zentrale Begriff der musikalischen Kinematographik – situiert sich auch der Versuch seiner musikästhetischen Theoretisierung in einer Verwirbelung verschiedener systematischer Ebenen, die in terminologische Zirkularitäten ebenso eintritt, wie sie sich in ihren virtuellen Resonanzräumen zu zerstreuen sucht. Immer wieder können jedoch auch Konsistenzpunkte ausgemacht werden, die sich zu provisorischen Forschungsplänen zusammenschließen lassen.
Plan der Untersuchung
Den systematischen Leitfaden des hier skizzierten Forschungsprogramms – ihr philosophisches »Leitmotiv« – bildet eine teils enge, teils ›freihändig‹ durchgeführte Bezugnahme auf philosophische Theoreme Deleuzes, die sich im Wesentlichen auf die Bücher Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild aber auch die zwischen 1981 und 1985 an der Universität von Vincennes abgehaltenen Kino-Seminare richtet und immer wieder auf die Philosophie Henri Bergsons zu sprechen kommt, von der Deleuzes eigener kinematographischer Ansatz in entscheidenden Zügen geprägt ist. Sowohl Deleuze, als auch Bergson wurden – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher so gut wie gar nicht mit musikästhetischen Fragen in Verbindung gebracht, so dass eine Herausforderung darin besteht, nach geeigneten Anknüpfungsmöglichkeiten, Überlagerungen mit bereits bestehenden Theorien und Potentialen einer transformativen Umfaltung gängiger Forschungsparadigmen zu suchen. Auch wenn diese Auseinandersetzung zunächst größtenteils implizit verläuft und sich in Rücksicht auf die Stringenz der Argumentation nur gelegentlich einen ›improvisatorischen‹ Ausdruck verschafft, können bereits jetzt viele Themengebiete abgesteckt werden, die in Zukunft von einer bergsonianisch-deleuzianisch inspirierten Musikontologie durchlaufen werden können.
Transposition in ein musikästhetisches Register
Eine konzeptionelle Herausforderung besteht zunächst darin, Deleuzes teilweise sehr charismatischen, gleichsam aber auch denkbar allgemein gehaltenen philosophischen Begriffe (das Ganze, die Idee, die Bewegung) mit der musikalischen Praxis in Beziehung zu setzen, ohne diese dabei zum Vehikel einer vorgefertigten philosophischen Begriffsprägung zu degradieren. Es wird versucht, die philosophische Systematik von Deleuzes Kino-Denken zunächst freizulegen und im Rahmen einer musikalischen Gedankenführung mit musikästhetischen Fragen in Verbindung zu bringen. Gerade durch den Transfer in ein anderes ästhetisches Register, der aufgrund der produktionsästhetischen Differenzen von Kino und Musik auf vergleichende Analogiebildungen verzichten muss, wird die paraphrasierte Systematik dazu herausgefordert, sich im Feld der Musik zu transformieren, abweichenden ontologischen Voraussetzungen anzupassen und sich in anderen technischen Medialitäten als denjenigen des Optischen, Ausdruck zu verschaffen. Die Paraphrase wird daher zunehmend zu einer begrifflichen Transposition in eine andere ontologische Tonart , da die Musik aufgrund ihrer akustischen Entzogenheit allen okularzentrischen Begriffsrahmungen entgeht. Das gemeinsame Sujet der Bewegung ermöglicht es dennoch, Deleuzes Begriffe in ihren zentralen Aspekten unbeschadet zu lassen und andererseits von musikalischer Kadrierung, Einstellung und Montage in einer Weise zu sprechen, als handelte es sich um genuin musikästhetische Begriffe.
Konstitutive Zweiseitigkeit
Die konstitutive Eigenschaft des Klang-Bildes, zweiseitige Einstellung zu sein, die sich wiederum selbst auf der Schnittstelle von kadrierenden (das heißt differenzlogisch einschneidenden) und montierenden (das heißt zeithaft öffnenden, gleichsam strömenden) Bewegungseinschreibungen situiert, soll mehr und mehr auch im Fortgang der hier zusammengefassten Untersuchung wirksam werden. Einerseits öffnen sich die Überlegungen – in zunächst womöglich problematisch verkürzender Weise – den ›großen‹ Fragen der klassischen Metaphysik – die auch von Deleuze ausdrücklich und zugegebenermaßen etwas verzerrt in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt werden. Andererseits bezieht sich die Argumentation auf mikrologische Studien, die dem musikalischen Material und seiner virtuellen Feingliedrigkeit volle, gleichsam mit dem philosophischen ›Zoom‹ hantierende Aufmerksamkeit widmen. Beide Seiten, sowie ihr konstitutives Zusammenspiel, zeichnen auf der einen Seite die Vielseitigkeit der ins Auge gefassten musikalischen Kinematographik aus. Auf der anderen Seite machen sie auf die mit ihr verbundene Gefahr aufmerksam, sich in der Vielfalt ihrer potentiellen Ausprägungsformen experimentell zu verlieren.
Teil I: Resonanzen des Virtuellen
Bei dem Projekt Resonanzen des Virtuellen, dem ersten, bereits abgeschlossenen Teil der musikalischen Kinematographik, handelt es sich in gewisser Weise um den Versuch, sich zunächst auf ein übergeordnetes musikästhetisches Problem einzustimmen. Es wird ein Bezugspunkt des musikästhetischen Denkens gesucht, auf den sich weitere Forschungarbeiten ausrichten können. Dieser Bezugspunkt bleibt vorerst virtuell. Sich einzustimmen bedeutet schließlich immer auch, in Konstellationen des Virtuellen einzutreten, die letztlich solche der Zeit sind. Auch die musikalischen Werke sind womöglich nur Anlass, sich ins Virtuelle einzustimmen. Als Problem liegt das Virtuelle ihnen voraus, als Resultat geht es aus ihnen hervor. Auf diese Weise ruft es jene, auch von Deleuze beschriebene »unendliche Öffnung« hervor, die als »Vorgängigkeit gegenüber jeder ›normalen Bewegung‹« alle motorischen Effekte aus sich entlässt. Resonanzen des Virtuellen sind dann die Widerklänge einer philosophischen Frage (»Was ist musikalische Zeit?«), deren Rekonstruktion sich als Zukunft aktualisieren muss.
Die These
Die These, die einer zu Beginn abgedruckten Absichtserklärung des ersten Teils zufolge ausgeführt werden sollte, lautet: »Die Musik ist nicht weniger kinematographisch als das Kino. Im Gegenteil: Auch sie schöpft ihre Kraft aus einer Vielfalt von Bewegungseinschreibungen und -transformationen, die nach einer Ausweitung kinematographischer Terminologie verlangt.«[1] Der etwas verdrehten Machart dieser These entsprechend, kann sich ihre argumentative Entfaltung nicht auf vorgefertigte Definitionen, gängige Begriffe oder methodologisch klar umrissene Forschungsprogramme berufen. Sie muss vielmehr zunächst in Form einer künstlerisch wissenschaftlichen Suchbewegung voranschreiten, um sich auf diese Weise an die Umrisse ihrer eigenen Systematik heranzutasten. Diese nimmt während der Ausarbeitung des Textes einerseits immer deutlichere Züge an, verliert dadurch aber andererseits nicht die Eigenschaft, sich mit jedem Klärungsschritt weiter zu öffnen. Die musikästhetische Begriffsmontage hat es hier mit dem durch und durch kinematographischen Problem zu tun, dass durch jede terminologische Kadrierung auch ein neues systematisches Außen erzeugt wird, das – je schärfer der begriffliche Schnitt vollzogen ist – mit Wucht in das künstlich umrissene Begriffsfeld einbrechen kann. Eine detaillierte Ausbuchstabierung der musikalischen Kinematographik steht daher noch aus und wird im Rahmen weiterführender Studien zu bewerkstelligen sein. Als angestrebter Ansatz des musikästhetischen Denkens verfügt die musikalische Kinematographik allerdings bereits jetzt über eine Vielzahl methodischer Einstellungen, in denen sich ihre eigene Zukunft als systematisch ausgeführte Semiotik der musikalischen Bewegung abspielen.
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