Benjamin Sprick / Christian Tschirner
Die nachhaltige Dramatisierung
Notizen und Querverbindungen für ein gemeinsames Projekt im Oktober 2024
»Es werden mehrere Jahrtausende nötig sein, um den Tieren das von uns zugefügte Leid heimzuzahlen!«
Franz von Assisi (1182–1226)
Die intrinsische Motivation des Soustainable Theater Labs am Ligeti-Center der HfMT ist die Suche nach den theoretischen und praktischen Fluchtlinien eines »nachhaltigen Theaters«. Nun war das Theater ja eigentlich 2000 Jahre lang ausgesprochen nachhaltig und hatte kein Problem damit, mit gegebenen Ressorucen hauszuhalten – wir Theatermacher:innen und Zuschauer:innen offenbar schon! Das Sustainable Theater Lab hat daher das Ziel formuliert, in Harburg ein nachhaltiges Theater zu gründen. In den einzelnen Workshops wollen wir dafür Bedingungen untersuchen: Orte, Zuschauer:innen, ästhetische Strategien etc.
Für den Workshop im Oktober zum Thema »Promenaden der Nutzlosigkeit« könnten sich die folgenden Anknüpfungspunkte abzeichnen:
Nutzlosigkeit. Probleme der Nachhaltigkeit haben zentral mit unserer Vorstellung und Praxis von Arbeit zu tun. Arbeit ist aus einer bestimmten Perspektive betrachtet der Ort eines »Stoffwechsels« mit der Natur.[1] Am Arbeitsplatz – auch in der Kultur – werden Körper und Stoffe der kapitalistischen Verwertungslogik, einem expansiven Nützlichkeitsregime unterworfen. Es ist paradoxerweise gerade die Effizienz- und Nützlichkeitslogik, die Verwertung, Vernutzung und Verschleiß produziert. Die Aufgabe eines nachhaltigen Theaters bestünde also darin, aus dem Regime der Nützlichkeit auszubrechen und Strategien/Ästhetiken/Politiken der Nutzlosigkeit zu entwickeln und dabei auf eine in aktuell umsichgreifenden Effizienzlogiken umhergeisternde Abwehr einer der »Urängste der Moderne« (Zygmunt Baumann) künstlerisch zu antworten.[2] Wie wäre ein Theater organisiert, das nicht von einer Vernutzung der Künstler:innen profitiert? Wie kann Nutzlosigkeit als subversive künstlerische Methode gedacht und praktiziert werden?
Logik des Subtrahierens. Weglassen ist oft besser als hinzufügen, gerade in künstlerischen Produktionsprozessen. Weniger ist mehr. Trotzdem tappen wir aktuell auch im Theater und in den Künsten immer wieder in die Mehr ist Mehr Falle, weil wir uns in einem sich zunehmend durchökonomisierenden Kontext bewegen. Oft wird dabei ein Bias wirksam, der uns Lösungen des ›Mehr‹ besser erscheinen lässt, als Lösungen des ›Weniger‹.[3] Wir bevorzugen die Überwältigung und ihre Erregungsökonomie, womömglich auch deshalb, weil ohne gespannte Aufmerksamkeit eine gesellschaftliche Leere, ein Mangel fühlbar wird, der kaum noch zu ertragen ist. Prozesse der Schrumpfung, der Verschlankung, der Vereinfachung werden auch bei ästhetischen Problemlösungsversuchen übersehen oder stoßen auf stärkeren Widerstand. Komplizierte Sätze klingen einfach besser. Welche Strategien der Reduktion gibt es? Wie können neue entwickelt werden? Welche subtraktiven semiotischen Ökologien können entworfen werden?
Besitz der Freiheit. In der Neuzeit wird der Begriff der Freiheit zunehmend mit materiellen Bedingungen verknüpft, als Besitzstandsfreiheit.[4] Um in den Besitzstand, das heißt in die vermeintliche Möglichkeit der Erfüllung eines Begehrens zu kommen, begeben wir uns in unglaubliche Zwänge. Vor der Neuzeit herrschte eine umgekehrte Vorstellung: Freiheit war an Besitzlosigkeit geknüpft, eben weil der Besitz zwangsläufig Zwänge verursacht.[5] Franz von Assisi beispielsweise könnte als spätmittelalterliche Performancekünstler dieses Freiheitsbegriffes gelesen werden.
Umherschweifen. »Das Umherschweifen des Schizophrenen gibt gewiss ein besseres Vorbild ab, als der auf der Couch hingestreckte Neurotiker.«[6] Wie das Zitat deutlich macht ist die Sinnsuche stets mit bestimmten Bewegungsrichtungen und Körperhaltungen verbunden. Das Treibenlassen ohne Ziel oder mäandernde Promenieren ist dabei in jüngster Zeit in eine gewisse Zwickmühle geraten. Es wird wohl verordnet, wenn der Stresspegel zu hoch angeschlagen hat. Zugleich wird es ebenfalls als lebensverbessernde Maßnahme gehandhabt, die im Geheimen nach der Steigerung der Produktivität strebt. »Einfach so mal nichts tun« wird zur diszipliniert durchgeführten Selbst-Aufgabe. Lässt sich dieser Umstand performativ erkunden. Wir gehen spazieren bzw. führen uns selbst an einer (mehr oder weniger locker gezogenen) Leine umher, um zu sehen, welche Fluchtlinien auf diese Weise entstehen. Leitend wird dabei lediglich die Frage, wie die Zeit verstreicht, wenn die Theatermacher:innen um die Häuser ziehen.
Für den 16.10.2024 wären folgende Szenarien denkbar:
Vor der Pause könnte Christian über den Performer Franz von Assisi sprechen, dazu eventl. Dominic Wills mit Vogelstimmen in Komposition. Nach der Pause (14-17:00) theoretische Rahmung des Themas als Talk/Gespräch, dann Spaziergang als Praxis der Nutzlosigkeit und abschließende Austausch.
[1] Vgl. hierzu ausführlich das neue Buch des Soziologen Simon Schaupp Stoffechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten (Berlin: Suhrkamp 2024).
[2] »›Überflüssig‹ zu sein bedeutet, überzählig und nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden – wie auch immer Nutz- und Gebrauchswert beschaffen sein mag, der den Standard für Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit liefert. Die anderen brauchen dich nicht; sie kommen ohne dich genauso zurecht, ja sogar besser. Es gibt keinen einleuchtenden Grund für deine Anwesenheit und keine nahe liegende Rechtfertigung für deinen Anspruch, hierbleiben zu dürfen. […] ›Überflüssig‹ bewegt sich im gleichen semantischen Umfeld wie ›Ausschussware‹, ›fehlerhaftes Exemplar‹, ›Müll‹ – wie Abfall. Die Arbeitslosen – die ›industrielle Reservearmee‹ – sollten noch ins aktive Erwerbsleben zurcükgeholt werden. Der Bestimmungsort von Abfall ist die Abfallecke im Hinterhof, die Müllhalde.« Zygmunt Baumann, Verworfenes Leben. Die Ausgesetzten der Moderne, Hamburg 2005, S. 21. [zitiert nach Schaupp, S. 331]
[3] https://taz.de/Menschliche-Denkfalle/!6029077/
[4] Vgl. C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Locke zu Hobbes, Frankfurt am Main1967: Suhrkamp.
[5] David Graeber / David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, München: Beck 2022.
[6] Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S.
Inwiefern? Inwiefern ist ›das Theater‹ hier getrennt von Theatermacher:innen und Zuschauer:innen?
Material