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Wer am Morgen des 2. Januar dieses Jahres noch etwas schlaftrunken den Computer anschaltete, um auf diese Weise einen Wiedereinstieg in den bevorstehenden Berufsalltag wenigstens anzudeuten, wurde unfreiwillig und plötzlich mit den ›Grundproblemen der abdenländischen Metaphysik‹konfrontiert: dem ›Big Bang‹ und der Frage nach dem Großen Ganzen.»Forscher entdecken Überreste des Urknalls« war auf der Website des Nachrichtendienstes Spiegel-Online zu lesen: »Milliarden Jahre alte Gaswolke gesichtet, die Erkenntnisse darüber ermöglicht, wie sich die ersten Galaxien im Universum gebildet haben.« Diese Nachricht schlug ein, wie eine Bombe. Wo wenige Stunden zuvor noch bei Sekt und Chinaböllern die Sekunden heruntergezählt werden mussten, um den bevorstehenden Jahreswechsel mehr oder weniger bewusst zu registrieren, stellte die Eilmeldung von Spiegel-Online Einblicke in intergalaktische Dimensionen in Aussicht, die jedes irdische Maß überschreiten. »Die Gaswolke«, so der Wortlaut des Artikels, »ist so weit entfernt, dass die Strahlung von ihr bis zu uns Milliarden Jahre unterwegs war. Die Astronomen sehen sie daher so, wie kurz nach dem Urknall. Zur Zeit ist das Universum 13,7 Milliarden Jahre alt.« ...
Das deutsche Substantiv ›Volk‹ leitet sich unter anderem aus der althochdeutschen Sprachwurzel »voll« ab. Diese wiederum verweist – inmitten einer diffusen etymologischen Verflechtung – auf das Verb »füllen«, was in etwa so viel wie »voll machen« oder »Füllung« bedeutet. Auch die »Fülle« ist hier nicht weit, die eine eben solche an weiteren Wortbedeutungen unter sich versammelt: »große Menge«, »Vielfalt«, »Haufen«, »volles Maß«, »Anhäufung«, »Ansammlung« können hier laut Duden genannt werden, aber auch »die Masse«, welche sich wiederum aus dem lateinischen Substantiv massa ableitet, was »Klumpen« oder »Brotteig« bedeutet. Und so lässt sich ein leichtes Völlegefühl kaum vermeiden, wenn das ›Volk‹ in Erscheinung tritt, die öffentlichen Plätze belagert und damit anfängt, seinem Begehren Ausdruck zu verleihen. Voll wird es dann zumeist und vor allem auch eng, da sich die Volksmassen – einmal in Bewegung versetzt – nur selten durch ihnen vorgesetzte Begrenzungen aufhalten lassen ...
Sir Edward Elgars Komposition Land of Hope and Glory ist die heimliche National-Hymne Großbritanniens. Sie taucht im Trio des berühmten »March No. 1« aus Pomp and Circumstance auf, der immer dann gespielt wird, wenn es in England etwas zu feiern gibt. 1902 wurde die eingängige Melodie anlässlich der Krönung von Edward dem VII. durch einen patriotischen Text ergänzt, der bis heute zum Abschluss der Last Night of the Proms gesungen und live aus der Royal Albert Hall in den Londoner Hyde Park übertragen wird. Land of hope and Glory erzählt vor allem von Machtgewinn und territorialer Expansion: »Wider still and wider«, so heißt es im Originaltext, »Shall thy bounds be set; God, who made thee migthy, Make thee mightier yet.« Auch in Korogocho, einem Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi, wird Elgar gespielt. Die sogenannten Ghetto Classics – ein aus Spendengeldern finanziertes Musikprojekt – geben ein festliches Konzert. Auf einem 500 Quadratmeter großen Grundstück haben die jungen Musikerinnen und Musiker am Tag zuvor einen kleinen Park angelegt und gut hundert Bäume gepflanzt. Ein riesiger Violin-Schlüssel durchzieht als befestigter Weg das Gelände ...
»In den Disziplinargesellschaften«, so Gilles Deleuze in seinem 1990 erschienenen Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, »hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendetwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind […] koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht. Franz Kafka, der schon an der Nahtstelle der beiden Gesellschaftstypen stand, hat im ›Prozeß‹ die fürchterlichsten juristischen Formen beschrieben: Der scheinbare Freispruch der Disziplinargesellschaften (zwischen zwei Einsperrungen) und der unbegrenzte Aufschub der Kontrollgesellschaften (in kontinuierlicher Variation) sind zwei sehr unterschiedliche juristische Lebensformen. […] Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, einer Umlaufbahn.«
Gleich einem feuerspeienden Berge«, so heißt es in einer Rezension der Urauffüh-rung von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie am 7. Mai 1824 im Wiener Kärntner-tortheater »sprengt […] Beethovens gewaltige Einbildungskraft die das Toben seines inneren Feuers hemmende Erde, und verarbeitet mit einer oft wunderlichen Beharrlich-keit Figuren, deren eigenthümliche Gestalt beim ersten Anblick nicht selten einen fast bizarren Charakter ausspricht […]. Mit nie versiegender Erfindungskraft wälzt sich der Meister immer neue Hindernisse in seinen nach Oben rauschenden Feuerstrom, hemmt ihn durch Ligaturen […] und drückt sie herab in eine schauerliche Tiefe, aus welcher sein entflammter Genius sie nun alle in einen Strahl vereint gegen die Wolken führt […]. Mit großer Kunst schlägt Beethovens Meisterhand mitten in diesem wunder-vollen Aufruhr […] die musikalische Volte, und verwandelt gleich einem Decorateur die ganze Masse seiner Figuren in ein verklärendes blaues Feuer.«
Optimum ist das lateinische Neutrum von Optimus, was in etwa so viel wie ›Der Beste‹ bzw. ›Hervorragenste‹ bedeutet und den Superlativ des Adjektivs bonus bildet, was wiederum mit ›gut‹ oder ›tüchtig‹, aber auch ›schön‹ oder ›tugendhaft‹ übersetzt werden kann. Durch und durch erstrebenswerte Eigenschaften also, deren weniger erfreuliche Gegenspieler sich im lateinischen Wort malus versammeln. Malus heißt ›schlecht‹, ›böse‹, ›fehlerhaft‹, ›unzuverlässig‹ aber auch ›untüchtig‹, ›unbrauchbar‹ und ›verderbend‹. Es lässt sich in den Superlativ Pessimus steigern, was so viel wie ›Der Schlechteste‹ bedeutet, jemand, der nur noch durch sein eigenes Neutrum überboten wird: Pessimum, das Überflüssige par excellence, die gesteigertste Form dessen, was sich in Sachen Nutzlosigkeit erreichen lässt.
Es gibt momentan Tage, an denen möchte man sich am liebsten zu Hause einschließen und die Bettdecke über den Kopf ziehen. Zu ernüchternd wirken die nicht enden wollenden Hiobsbotschaften auseiner vermeintlich ›postfaktisch‹ degenerierten politischen Wirklichkeit, als dass sich ihnen noch tragfähige Affekte desWiderstands oder das Vorhaben einer konsistentenGesellschaftskritik entgegensetzen ließen. Vielmehr macht sich ein dumpfes Gefühl der Ohnmacht breit, das mit der Ahnung einhergeht, längst selbst Teil einer Realität geworden zu sein, die sich im Surrealen zu verlieren droht. An solchen Tagen, an denen es sich eigentlich empfiehlt, den Schlafanzug anzubehalten und prophylaktisch die Fenster zu verrammeln, kommen die kristallklaren Klänge, die der isländische Pianist Víkingur Ólafsson auf seiner neuen CD Philipp Glass × Piano Works dem Klavier entlockt, wie gerufen. Sie lassen etwas Licht ins trostlose Dunkel derMelancholie fallen und helfen, in die lähmende Resignation ein paaröffnende Resonanzräume zu schlagen ...
»Wie viele Vorlesungen und Tagungen habe ich in aller Welt miterleben dürfen«, so der französische Philosoph Alain Badiou in seinem neuen Buch Versuch, die Jugend zu verderben, »bei denen sich das Publikum zusammensetzte aus einem harten Kern […] von Veteranen wie mir, welche die großen Schlachten der sechziger und siebziger Jahre geschlagen haben, und aus einer Masse junger Leute, die gekommen waren, um zu hören, ob der alte Philosoph nicht etwas Interessantes zu ihrer […] Orientierung und zur Möglichkeit eines wahren Lebens zu sagen hatte […]. Wie durch einen Bocksprung scheint die Jugend von heute die dominierende Altersklasse, […] überspringen zu wollen, um das Bündnis mit einem harten Kern der alten Revoluzzer und Unverdrossenen zu suchen. Die desorientierte Jugend paktiert mit den alten Haudegen der Existenz. Gemeinsam werden wir durchsetzen, dass sich die Wege zu einem wahren Leben wieder öffnen.«
Zusammen mit Mareike Teigeler
»Von einem anderen Standpunkt aus« so Gilles Deleuze in einer 1984 erschienenen Studie über den irischen Maler Francis Bacon, »verliert die Frage nach der Scheidung der Künste, ihrer jeweiligen Autonomie, ihrer möglichen Hierarchie jegliche Bedeutung. Denn es gibt eine Gemeinschaft der Künste, ein gemeinsames Problem. In […] der Malerei wie in der Musik geht es nicht um Reproduktion oder Erfindung von Formen, sondern um das Einfangen von Kräften. […] Die Aufgabe der Malerei ist als Versuch definiert, Kräfte sichtbar zu machen, die nicht sichtbar sind. Ebenso bemüht sich die Musik darum, Kräfte hörbar zu machen, die nicht hörbar sind. Das ist eine Selbstverständlichkeit.«
»Es gibt etwas in der Welt«, so Gilles Deleuze in seinem 1968 erschienenen Buch Differenz und Wiederholung, »das zum Denken nötigt. Dieses Etwas ist Gegenstand einer fundamentalen Begegnung, und nicht einer Rekognition. […] Es mag in verschiedenen affektiven Klangfarben erfasst werden, Bewunderung, Liebe, Hass, Schmerz. In seinem ersten Merkmal aber, und in ganz gleich welcher Klangfarbe, kann es nur empfunden werden. Gerade in dieser Hinsicht widersetzt es sich der Rekognition.«
»Die Musik hat sich im 20. und 21. Jahrhundert in einer Weise diversifiziert, die den Versuch einer einheitlichen Definition dessen, was sie ist, was sie war bzw. was sie sein soll als aussichtsloses Unterfangen erscheinen lässt. Jedes musikalische Geschmacksurteil, jede Abgrenzung von musikalischen Genres und Stilen, jeder Versuch, das musikalische Material zu einer stimmigen‹ Gesamtkomposition zusammenzufügen, begibt sich daher auf Abwege und in Sackgassen, weil er einem Gegen-stand habhaft zu werden versucht, der sich einem dauerhaften Zugriff kontinuierlich entzieht. Die Sendung versucht, diesen Aporien der Musik nachzugehen. Ihre Beiträge nähern sich von verschiedenen Richtungen aus den Grenzen an, die dem Denken durch die Musik gezogen werden.«
An dieser Sendung haben mitgewirkt: Sabine Kastius, Malte Struck, Benjamin Sprick, Nicola Torke, David Wallraf und Mark Wehrmann.
»Seit dem Christentum, so Michel Foucault 1977 in einem Gespräch mit Bernhard Henri Lévy, »hat das Abendland unaufhörlich wiederholt: ›Um zu wissen, wer du bist, musst du wissen, was mit deinem Sex los ist.‹ Stets war der Sex der Knotenpunkt, am dem sich gleichzeitig die Geschicke unserer Spezies und unsere ›Wahrheit‹ als menschliche Subjekte verknüpfen.« Der Sex, so Foucault, sei deshalb nicht zuerst das Feld einer Unterwerfung oder Verelendung, sondern das einer Wahrheitsproduktion gewesen. Nicht der unterdrückte, nicht der reglementierte, nicht der ins Dunkel eines Verschweigens verbannte, sondern der produktive, der beredte und minutiös kartografierte Sex also: Von Anfang an verbindet sich er sich mit vielfachen Figuren der Macht. Stets bringt sie etwas hervor, stets ist sie produktiv.
An dieser Sendung haben mitgewirkt: Markus Boysen, Marisa Calcagno, Hans-Joachim Lenger, Isolde Mac Liam, Lena Sajaloli, Benjamin Sprick, Mareike Teigeler und David Wallraf.
»Na? Alles gut bei Dir?« »Ja ja, alles gut. Und bei Dir? Auch alles gut?« »Och, naja... Alles gut.« Derart sinnlose Frage-und-Antwort-Spiele machen deutlich, dass es bei der lässig-coolen Floskel vor allem darum geht, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. Angesichts vermeintlichbedeutungsloser Vorkommnisse eines noch bedeutungsloseren Alltags lässt man sich nicht unnötig aus dem Konzept bringen. Man findet im Großen und Ganzen und überhaupt ›Alles‹ einfach nur ›gut.‹ DieEinigkeit suggerierende Parole wirkt dabei wie eine sprachliche Abdichtung gegen möglichen Streit oder überflüssige Missverständnisse. Sie lässt Frage und Antwort zusammenfallen und eröffnet auf diese Weise einen sprachlichen Zirkel, in dem die unausgesprochene Übereinkunft,sich gegenseitig in Ruhe zu lassen, ihre immer gleichen Bahnen ziehen kann.
»Lange vorausberechneter Selbstmord, dachte ich, kein spontaner Akt von Verzweiflung. Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervirtuose des Jahrhunderts, ist nur einundfünfzig geworden, dacht ich beim Eintreten in das Gasthaus. Nur hat der sich nicht wie Wertheimer umgebracht, sondern ist, wie gesagt wird, eines natürlichen Todes gestorben. Viereinhalb Monate New York und immer wieder die Goldbäergvariationen und Die Kunst der Fuge, viereinhalb Monate Klavierexerzitien, wie Glenn Gould immer wieder nur in Deutsch gesagt hat, dachte ich.«
Gelesen von Markus Boysen;
mit Musik von Johann Sebastian Bach und Glenn Gould.
»Ganz Ohr sein, lauschen, das ist immer am Saum des Sinnes sein, oder in einem Rand- und Außensinn, und als wäre der Klang eben nichts anderes als dieser Saum, diese Borte oder dieser Rand – zumindest der musikalisch gehörte Klang. Dieser nämlich wird um seiner selbst willen aufgelesen und beäugt; nicht als ein akustisches Phänomen indessen (oder nicht allein), sondern als (wider)klingender Sinn, als Sinn, dessen Sinnhaftes sich stimmigerweise in Klang und Resonanz finden soll und nur darin.« – Jean-Luc Nancy, Zum Gehör
Mit Texten von: Rose Ausländer, Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Emile Cioran, Emily Dickinson, Balthasar Gracia, Robert Musil, Jean-Luc Nancy, Novalis, Jean Paul, Fernando Pessoa, Botho Strauß, Mano Zangaris und John Williams. An dieser Sendung haben mitgewirkt: Markus Boysen, Ulli Maier, Peggy Parnass und Hans-Joachim Lenger. Musik: Anton Dvorak Dumky-Trio in Variationen von Benjamin Sprick und David Wallraf
Ausnahmen kann man sich nur schwer entziehen. Wer beispielsweise an einem sogenannten Feiertag bei seiner Arbeitsstelle erscheint und darum bittet ›ausnahmsweise‹ lieber arbeiten zu dürfen, der wird wahrscheinlich direkt zum Amtsarzt geschickt. Und das Vorhaben, ein Fußballweltmeisterschafts-Finale mit deutscher Beteiligung durch eine zur regulären Uhrzeit gesendete Ausgabe der ARD-Tagesthemenzu unterbrechen, führte wohl zu bürgerkriegsähnlichen Ausnahmezuständen auf den Straßen. Worin besteht die sprichwörtliche Macht der Ausnahme die Regel zu ›bestätigen‹? Und wie müssen Regeln beschaffen sein, denen ihr eigenes Aussetzen als Möglichkeitsgrund mit eingeschrieben ist?
1866 erschien Victor Hugos Roman Die Arbeiter des Meeres, den er während der Jahre seines Exils auf den Kanalinseln Jersey und Guernsey, die auch Schauplatz der um 1820 spielenden Romanhandlung sind, geschrieben hat. Die Geschichte des Schiffbruchs und der Bergung des Dampfschiffs Durande, das aufgrund eines Sabotageaktes auf die Douvres-Klippen aufläuft, bildet die Rahmenhandlung. Zwei Charaktere werden von Hugo besonders eindringlich und exemplarisch beschrieben: der Kapitän Clubin, der mit verbrecherischen Absichten den Schiffbruch der Durande herbeiführt, und der unglücklich liebende Gilliatt, der um seiner Liebe willen sich an die heroische Arbeit macht, wenigstens die Maschine des Dampfers zu bergen. Beide sind den Unwägbarkeiten der Naturgewalt des Meeres und des Wetters konfrontiert.
Gelesen von Markus Boysen;
mit Musik von: Benjamin Sprick und David Wallraf;
Redaktion: Hans-Joachim Lenger.